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Interview mit Jürgen Aust

"Ich habe per Post eine leere Pistolenpatrone geschickt bekommen."
Der Rechtsanwalt und ehemalige FIFA-Schiedsrichter Jürgen Aust leitete von 1989 bis 2003 weit über 200 Spiele in den beiden Bundesligen. Er erzählte uns von seinem Verhältnis zu Mario Basler, warum damals keine jungen Schiedsrichter auf dem Betzenberg eingesetzt wurden und davon, wie er mit Willi Lemke nach Abpfiff ein Gläschen Sekt trank. 

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von Mario Gailing
Jürgen Aust, Sie haben weit über 200 Profispiele geleitet und haben den Wandel im Profifußball hautnah miterlebt. Welches sind die grundlegendsten Veränderungen in den ganzen Jahren gewesen?
Die Ansprache zwischen Schiedsrichter und Spieler sowie die Akzeptanz zu den Vereinsoffiziellen hat sich erheblich verändert. Kurze Ansagen wurden im Laufe der Zeit immer weniger und auch der Respekt vor den Entscheidungen ist zurückgegangen.

Sie hatten es mit Spielern wie Sammer, Effenberg, Matthäus oder Kahn zu tun. Wie haben Sie es geschafft, dass solche Topstars mit einem sehr großen Ego Sie als Chef auf dem Platz akzeptiert haben?
Für mich gab es kein Patentrezept. Ich habe versucht, den entsprechenden Spieler zu verstehen und ihn auf seine Außenwirkung hinzuweisen. Dies hat dem Spieler und mir geholfen. Auch ein kurzer Plausch im Kabinentrakt oder beim Warmmachen haben geholfen.

Sie mussten Ihre Karriere verletzungsbedingt vorzeitig beenden. Ist es Ihnen leicht gefallen von der großen Bundesligabühne zu steigen?
Ich habe mir immer zum Ziel gesetzt, selber zu entscheiden, wann ich aufhören möchte und nicht bestimmte Zeitungen dies fordern. Da ich zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit einen positiven Namen hatte, konnte ich für mich selber den Schlussstrich ziehen. Mir ist es anfangs nicht leichtgefallen, von jetzt auf gleich nicht mehr dabei zu sein. Ich musste erst einmal verstehen, dass ich jetzt mehr Zeit für meine Familie und mich hatte. 

Was halten Sie von der Altersgrenze für Schiedsrichter? Einem Lothar Matthäus hat auch nie jemand gesagt, dass jetzt Schluss ist.
Ich finde es gut, dass es die Altersgrenze gibt. Die körperlichen und mentalen Anforderungen steigen stetig und hier und da merkt es die Person nicht, dass er den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Durch die Altersgrenze haben auch jüngere Schiedsrichter die Möglichkeit, ihren Weg zu gehen.

Wenn Sie heute die drei von Ihnen geleiteten interessantesten Spiele küren müssten, welche würden es aufs Treppchen schaffen?
Natürlich das Pokalendspiel im Jahr 1999 zwischen dem FC Bayern München und dem SV Werder Bremen. Danach mein erstes Bundesligaspiel zwischen FC Bayern München und dem 1. FC Kaiserslautern. Als ich die Ansetzung erhalten habe, dachte ich an eine Fehlansetzung. Kaiserslautern war zu dem Zeitpunkt Tabellenführer und Bayern knapp dahinter. Erst als ich die Reise angetreten habe, war ich mir über die Spielleitung sicher. In Erinnerung ist mir auch noch ein Relegationsspiel zum Aufstieg zwischen VfL Osnabrück und Union Berlin geblieben. Der Sieger der Partie war der Aufsteiger und entsprechend war die Anspannung. Auch war bekannt, dass die Fans der Gäste nicht gerade die friedlichsten waren.

Welches war das schönste Stadion, in dem Sie ein Spiel pfeifen durften?
Das Dortmunder Stadion war und ist für mich das schönste Stadion. Die Stimmung ist super. Ich hatte einmal das Spiel Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach. War schon einmalig, wenn 80.000 Menschen Borussia brüllen.

Früher hieß es zum Beispiel auf dem Betzenberg in Kaiserslautern, dass die Schiedsrichter sich von dem Publikum beeinflussen lassen würden. Stimmt das oder prallt die Atmosphäre am Schiedsrichter ab?  
Es war richtig, dass die Fans auf dem Betzenberg versucht haben, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. Selbst bei einem Einwurf gegen Kaiserslautern hingen die Fans am Zaun. Aus diesem Grund wurden seinerzeit junge Schiedsrichter nicht auf dem Betzenberg angesetzt. Ich selber konnte die Einflussnahme von Seiten der Zuschauer ausblenden.

Hatten Sie jemals Angst um Ihre Gesundheit während eines Spiels?
Nein, ich hatte keine Angst um meine Gesundheit. Ich habe zwar einmal per Post eine leere Pistolenpatrone erhalten, dem jedoch keine Bedeutung beigemessen. In den oberen Ligen ist die Distanz zwischen Schiedsrichterteam und Zuschauer sehr gut, bei den Spielen in den unteren Klassen ist dies nicht gegeben. 

Früher waren persönliche Gesänge gegen Schiedsrichter wie das eher harmlose „Schiri, wir wissen wo dein Auto steht“ und das schon krasse „Hängt sie auf die schwarze Sau“ an der Tagesordnung. Haben Sie solche Gesänge beeinflusst oder sogar belastet?
Wer in den oberen Ligen Spiele leitet, muss dies ausblenden! Nach dem Anpfiff war ich nur noch auf meine Spielleitung fokussiert und habe lediglich ein Raunen seitens der Zuschauer vernommen.

Viele Fußballfans sind Fußballromantiker und wünschen sich die „guten alten Zeiten“ zurück. Waren die ersten 30-35 Jahre der Bundesliga wirklich so viel besser oder glorifiziert man die alten Zeiten einfach?
Jede Zeit hat ihre Eigenheiten und man sollte die Entwicklung respektieren. Es wird meines Erachtens heute dem Zuschauer mehr Unterhaltung im Stadion geboten. Eine der besten Regeländerungen war die Unterbindung des Rückpasses an den eigenen Torwart. Jetzt gab es viel weniger Zeitspiel, was zuvor als taktischen Gründen im Spiel genutzt wurde.

Gibt es Spiele oder Szenen, die Ihnen immer noch besonders gut im Gedächtnis sind?
Ich hatte am Ende einer Saison am vorletzten Spieltag eine Partie, wo der Sieger in der Bundesliga blieb und am letzten Spieltag die Meisterschaft mit entschieden wurde. Dies kann man nicht so ohne weiteres verdrängen und hat mich schon beschäftigt. Der Druck war schon enorm und wurde auch von den Medien geschürt. So war ich bei einem Spiel von 1860 München angesetzt und aufgrund der Tabellensituation stand der damalige Trainer Werner Lorant vor der Entlassung. Eine Zeitung hat geschrieben, dass auch der DFB durch meine Ansetzung die Entlassung fördere, da man recherchiert hatte, dass nach einigen Spielleitungen von mir im Anschluss ein Trainer gehen musste.

Wie Sie schon erwähnt haben leiteten Sie das Pokalendspiel zwischen Bayern und dem SV Werder 1999 geleitet. Ist der Schiedsrichter vor solchen Ausnahmespielen und einem Millionenpublikum aufgeregt?
Klar handelt es sich nicht um ein normales Spiel. Allein das Drum und Dran. Die Nationalhymne vor dem Spiel, Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Sport versammeln sich in Berlin. Als Schiedsrichter weißt du genau, dass du keinen Fehler machen darfst. Jede Entscheidung kann gravierende Folgen haben. Auch die Medien wollten im Vorfeld wissen, wie ich mich auf dieses Spiel vorbereitet habe. Ändere ich meinen Tagesablauf, werden die Mahlzeiten anders ausfallen? Mehrere dieser Fragen wurden im Vorfeld durch die Medien hinterfragt. Aber als der Anpfiff erfolgte, konnte ich die Aufregung ablegen und mich ganz auf die Spielleitung konzentrieren.

Es ist vollkommen menschlich, dass man als fußballinteressierter Mensch Sympathien, aber auch gewisse Abneigungen für, bzw. gegen Vereine entwickelt. Kann man dies auf dem Platz ausblenden oder würden sie heute sagen, dass Sie auch mal eine Sympathie-Entscheidung getroffen haben? Vielleicht sogar unterbewusst?
Als Kölner war ich natürlich daran interessiert, welches Ergebnis der 1. FC Köln erspielt hat. Ich kann nicht ausschließen, dass eventuell einmal eine Entscheidung aus der Sympathie heraus getroffen wurde. Es ist aber auch klar, der Schiedsrichter muss auch egoistisch sein. Eine offensichtliche Fehlentscheidung oder eine Sympathieentscheidung wird durch den Beobachter erkannt und dies führt zu einer negativen Beobachtung, was am Ende einer Saison auch mit einem Abstieg enden kann. Der entsprechende Verein wird es sicherlich nicht danken.

Gab es Spieler oder Trainer mit denen Sie sympathisiert haben? Nennen Sie uns doch mal ein paar Persönlichkeiten, die Ihnen angenehm in Erinnerung blieben und warum das so war.
Ob man es glauben möchte oder nicht: Es gab wechselseitige Sympathien mit Mario Basler. Wir haben vor den Spielen unsere Scherze gemacht und auch während des Spiels konnte ich mit ihm sprechen. Unterhaltsam war auch Trainer Winny Schäfer. Er hat sich bei Entscheidungen theatralisch aufgeregt und dann mit einem Lächeln oder einer Geste sich entschuldigt.

Natürlich wollen wir auch den Gegensatz kennen lernen. Wer ging überhaupt nicht?
Sicherlich gab es auch Spieler oder Trainer, mit denen ich meine Probleme hatte. Ich bitte aber um Verständnis, wenn ich im Nachgang keinen Namen nennen möchte.

Vergleichen Sie doch bitte die Fußballer von vor 30 Jahren mit den heutigen Spielern?
Der Spieler zu Beginn meiner Karriere hatte Verständnis für getroffene Entscheidungen. Ich konnte auch während des Spiels einem Spieler schon einmal etwas sagen und ihn ansprechen. Es war ein gutes, sportliches Verhältnis. Heute nimmt man die Entscheidungen nicht mehr so auf. Auch finde ich es befremdlich, wenn sich Spieler oder Trainer bei einem Austausch die Hand vor den Mund halten und sich sehr geheimnisvoll austauschen. Simulationen oder das Fordern von persönlichen Strafen kannte man in der heutigen Form nicht. 

Sie haben so viele große Persönlichkeiten des Fußballs kennengelernt. Gibt es Geschichten, an die Sie sich besonders gerne zurückerinnern? 
Franz Beckenbauer war eine Zeit Experte bei einem Bezahlsender, und war Präsident des FC Bayern München. Auch wenn er zeitlich sehr eingespannt war, nahm er sich immer die Zeit, vor dem Spiel in die Schiedsrichterkabine zu kommen und das Team zu begrüßen und einen kurzen Plausch zu halten. Dies habe ich kurze Zeit später dem Schiedsrichterbetreuer des HSV erzählt, denn zu der Zeit war Uwe Seeler Präsident beim HSV. Einige Minuten später kam dann Uwe Seeler in die Kabine und begrüßte uns. Einmal kam der damalige Manager vom SV Werder Bremen kurz vor einem sehr entscheidenden Spiel in unsere Kabine und sagte, dass wir nicht so viele Fehler machen sollten, wie vermutlich seine Spieler aus Nervosität machen werden. Nachdem Werder das Spiel verloren hatte, kam Willi Lemke mit einer Flasche Sekt in unsere Kabine und wir haben ein Gläschen getrunken.

Was halten sie von der kommerziellen Entwicklung im Profifußball?
Die kommerzielle Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein. Leider geschieht dies zu Lasten der Fans. Ein Spieltag entzerrt sich mittlerweile auf vier Tage und die Anstoßzeiten führen dazu, dass gerade jüngere Fans nicht mehr zu den Spielen gehen können. Durch die vielen Bezahlsender und verschiedenen Liveübertragungen verliert man den Überblick. Mir geht es auf jeden Fall so.

Glauben Sie, dass durch das Ausschlachten des Fußballs eine Übersättigung des Publikums stattfindet?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Übersättigung des Publikums kommt. Die „Ware“ Fußball wird immer wieder gefragt sein und der Fan steht weiterhin zu seinem Verein. Sollte jedoch im internationalen Fußball weitere Ligen eingeführt werden so ist, zumindest hier in Deutschland, eine Übersättigung zu befürchten. 

Marcel Reif sagte mir in einem Interview, dass er fest davon ausgeht, dass irgendwann die Superliga für die ganz großen Vereine kommt. Könnte dies auch eine Chance für den nationalen Vereinsfußball sein? Wenn Bayern zum 20. Mal in Folge Meister wird interessiert es vielleicht bald niemanden mehr. 
Es ist zu befürchten, dass eine Superliga kommen wird. Dies hätte aber zur Folge, dass dann die Champions League oder andere Ligen gestrichen werden. Die Identifikation wird dann auch bei den heimischen Fans abnehmen, wenn keine Nachbarschaftsduelle wie Schalke gegen Dortmund oder Köln gegen Leverkusen mehr stattfinden. Diese Lokalderbys machen die Bundesliga interessant und sehenswert. 

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